Stand: 28.06.2022 20:49 Uhr
Truppenverstärkung, Unterstützung der Ukraine, China-Russland-Strategie: Welche Kernthemen sollen beim Nato-Gipfel in Madrid diskutiert werden – und wo könnte es schwierig werden. Von Stephan Ueberbach, ARD-Studio Brüssel, derzeit Madrid
Truppenverstärkung im Osten
Mehr Truppen, mehr Waffen, mehr Manöver: Die Nato will ihre Präsenz in der Östlichen Allianz deutlich ausbauen – zu Wasser, zu Lande und in der Luft. Es betrifft auch Verbesserungen in der Luftüberwachung und Raketenabwehr. In Bulgarien, Ungarn, Rumänien und der Slowakei werden weitere Battle Groups, die sogenannten multinationalen Battle Groups, eingesetzt, die die Streitkräfte in Polen und den baltischen Staaten verstärken. Es zielt auf die Brigade ab, die aus 3.000 bis 5.000 Mann bestehen würde – angeführt von Deutschland in Litauen, Großbritannien in Estland, Kanada in Lettland. Truppen sollen mit den Soldaten der jeweiligen Partnerländer für Einsätze ausgebildet, aber nicht ständig vor Ort sein. SWR-Logo Stephan Ueberbach ARD Studio Brüssel Auch die Nato plant nach dem russischen Einmarsch in die Ukraine den Einsatz von deutlich mehr Truppen als je zuvor. Um flexibler auf potenzielle Bedrohungen reagieren zu können, wird derzeit die „Schnelle Eingreiftruppe“ mit rund 40.000 Mann umgebaut, die seit Monaten in Alarmbereitschaft ist. Insgesamt will das Bündnis innerhalb bestimmter Fristen mehr als 300.000 Mann in den Einsatz schicken können. Wir sprechen von 10 bis 50 Tagen. Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg spricht von einer grundlegenden Änderung der Abschreckungs- und Verteidigungspolitik des Bündnisses – und einer klaren Botschaft an Moskau.
Unterstützung für die Ukraine
Schaltet sich der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj per Video zu dem Gipfel zu, könnte er mit weiteren Nato-Hilfszusagen rechnen. Stoltenberg hält es für “äußerst wichtig”, die Selbstverteidigungsfähigkeiten der Ukraine zu stärken – und hat deshalb bereits vor dem Gipfel umfangreiche Lieferungen angekündigt. Anti-Drohnen-Systeme zum Beispiel oder sichere Kommunikationstechnik und Treibstoff.
Langfristig will die Westliche Verteidigungsallianz die Ukraine dabei unterstützen, militärisches Gerät aus der Sowjetzeit durch modernes Gerät aus Nato-Staaten zu ersetzen.
nördliche Verlängerung
Auch Finnland und Schweden stehen vor einer Zäsur: Angesichts einer heftigen russischen Offensive in der Ukraine wollen beide Länder ihr jahrzehntelanges Engagement aufgeben. Wenn Finnland und Schweden der NATO beitreten wollen, werden sie mit offenen Armen empfangen, sagte Stoltenberg im April und wies darauf hin, dass es seit langem eine enge militärische Zusammenarbeit gebe.
Zudem ist die Nato davon überzeugt, dass eine Erweiterung nach Norden nicht nur mehr Sicherheit in die beiden nordischen Länder bringt, sondern das westliche Verteidigungsbündnis insgesamt stärker macht. Die finnische Armee ist traditionell auf Landverteidigung ausgelegt und verfügt über eine Vielzahl von Artilleriesystemen, die schwedischen Streitkräfte über eine moderne Marine mit Korvetten und U-Booten. Beide Länder bringen eine starke Luftfahrt mit.
Die Türkei steht seit langem am Abgrund – was den Beitrittsprozess behindert hat. Die NATO kann neue Mitglieder nur einstimmig aufnehmen. Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan hat Schweden und Finnland vorgeworfen, zu wenig gegen kurdische Extremisten zu tun, und unter anderem die Auslieferung von PKK-Anhängern gefordert. Beide Länder sollten auch das Waffenembargo gegen die Türkei aufheben. In der Nacht zum Dienstag gab die Türkei jedoch ihren Widerstand auf. Die Türkei werde die Einladung an Finnland und Schweden unterstützen, dem Bündnis während des NATO-Gipfels in Madrid beizutreten, sagte der finnische Präsident Sauli Niinistö.
Neues strategisches Konzept
Terror, Cyberangriffe, Extremismus, autoritäre Herren. Was sind die größten Herausforderungen für die NATO in den nächsten zehn Jahren? Was sind die Risiken? Und wie soll das Militärbündnis auf neue Bedrohungen reagieren? Die aktuelle Strategie stammt aus dem Jahr 2010. Damals galt Russland noch als potenzieller Partner und China wurde nicht einmal erwähnt, heute ist die Sicherheitslage eine völlig andere.
Inzwischen hat die NATO das Kapitel Russland komplett umgeschrieben. Moskau wird jetzt eindeutig als die größte und unmittelbarste Bedrohung der internationalen Ordnung anerkannt. China wird als Herausforderung für die Sicherheit, Interessen und Werte der NATO angesehen. Die USA wollten eigentlich einen stärkeren Ton gegenüber Peking, aber Deutschland hatte unter anderem auf einer ausgewogenen Formulierung bestanden.
Auch die NATO betrachtet den Kampf gegen den Klimawandel als Pionieraufgabe. Das Bündnis sieht in der zunehmenden Erderwärmung eine Bedrohung für die globale Stabilität sowie für aktuelle und zukünftige Militäreinsätze. Denn extreme klimatische Bedingungen in den Einsatzgebieten werden immer mehr zur Belastung für Mensch und Material. Dadurch will die NATO weniger Treibhausgase in die Luft pusten und bis 2050 klimaneutral sein.