Entsprechend feierlich klingen die Treueschwüre des Weißrussen. Lukaschenko sagte am Montag, er habe Putins Vorgehen gegen die Ukraine “vom ersten Tag an” unterstützt und sein Weißrussland sei so eng mit seinem Schwesterstaat verbunden, “dass wir praktisch eine gemeinsame Armee haben”. Aber trotz der großen Worte und offiziellen Feier der slawischen (Waffen-)Bruderschaft, trotz Lukaschenkos massiver Abhängigkeit vom Kreml, hat der Minsker Absolutist bisher keinen Schritt getan: nämlich sich Russland in den Krieg gegen die Ukraine anzuschließen. Russische Truppen durften Weißrussland als Stützpunkt für ihren gescheiterten Angriff auf die ukrainische Hauptstadt Kiew nutzen. Bis heute gibt es auch russische Raketenangriffe auf die Ukraine aus dem Hoheitsgebiet von Belarus.

Die ukrainische Armee berichtet über Kriegsvorbereitungen

Minsk schickte seine Truppen jedoch nicht in Richtung Kiew oder Lemberg selbst. Zumindest bis jetzt. Denn Lukaschenkos Äußerung am Montag, das Land habe praktisch ein gemeinsames Militär mit Russland, ließ nicht nur den ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj aufhorchen, der die Äußerung “besonders gefährlich für das belarussische Volk” nannte. Es hat auch zu Unruhen in der Ukraine und im Westen geführt, wo eine zunehmende Beteiligung von Belarus an den Feindseligkeiten befürchtet wird. Nach Ausbruch des Krieges im Februar protestierten die Weißrussen in Litauen gegen die Unterstützung ihres Staatschefs Alexander Lukaschenko für die Politik des russischen Präsidenten Wladimir Putin. – © afp, Petras Maluku Und das nicht ohne Grund: Am vergangenen Wochenende schürte Lukaschenko Spekulationen, Weißrussland könnte sich Russland im Ukraine-Krieg anschließen, und warf Kiew vor, Raketenangriffe auf weißrussischem Boden zu starten. “Sie provozieren uns”, sagte Lukaschenko der staatlichen Nachrichtenagentur Belta. Die ukrainische Armee hätte versucht, militärische Einrichtungen in Belarus anzugreifen. Alle Raketen wurden jedoch abgefangen. Der belarussische Diktator drohte mit militärischer Vergeltung, sollte sein Land angegriffen werden. Unabhängige Beobachter wie der belarussische Politikwissenschaftler Artjom Schraibman sind der Meinung, dass es keine Hinweise auf ukrainische Raketenangriffe auf belarussisches Territorium gibt. Aber selbst Militärschläge, die nie stattgefunden haben, können, wie wir wissen, vorgetäuscht und als Vorwand für einen Krieg verkauft werden. Zumal auch die ukrainische Armee über mögliche Kriegsvorbereitungen in Weißrussland berichtet: In den Grenzgebieten von Brest und Gomel soll der Bau schwimmender Brücken im Gange sein. Laut Bürgermeister Andriy Sadowyj laufen in der westukrainischen Stadt Lemberg bereits die Vorbereitungen für eine „Eskalation“ aus Weißrussland. Es wird befürchtet, dass eine Invasion belarussischer Truppen die Versorgungswege zwischen Lemberg und der polnischen Grenze unterbrechen könnte. Dies wird die Lieferung westlicher Waffen an die Ukraine ernsthaft stören, wenn nicht sogar ganz stoppen. Aber würde Belarus eine solche Invasion gelingen? Viele bezweifeln es. Anders als die ukrainische Armee ist die belarussische Armee alles andere als kampferprobt, sondern ähnelt eher ukrainischen Truppen aus der Zeit des gestürzten Ex-Präsidenten Wiktor Janukowitsch. Der russische Präsident Wladimir Putin (links) und sein weißrussischer Amtskollege Alexander Lukaschenko (rechts) bei ihrem letzten Treffen im Juni. Das vor 2020 angespannte Verhältnis ist heute – zumindest nach außen – herzlich. – © afp, Michael Metzel Auch Schraibman bezweifelte in einem Interview mit der „Wiener Zeitung“, dass Weißrussland ein Vordringen in Richtung Lemberg gelingen könnte. Trotz der Intensität der Kämpfe in der Ostukraine könnten die Ukrainer die belarussischen Truppen wahrscheinlich stoppen. Zumal sie im Ernstfall kaum motiviert sein dürften: „90 bis 95 Prozent der Weißrussen sind laut Umfragen gegen eine Truppenentsendung in die Ukraine“, berichtet Schraibman. Lukaschenko weiß, dass er die alles andere als kriegerische Stimmung in der Bevölkerung berücksichtigen muss, wenn er nicht wieder in große Schwierigkeiten geraten will: „Die Unterstützung, die er im Moment noch aus der Bevölkerung hat, beruht darauf, dass Unterstützer glaube, dass dank “Weißrussland nicht im Krieg ist”, sagt Schraibman. Das Wort Krieg weckt in Weißrussland noch schrecklichere Erinnerungen als in der Ukraine: Das Gebiet des heutigen Weißrusslands war das am stärksten verwüstete Gebiet im Zweiten Weltkrieg. Ein Viertel der Bevölkerung fiel den Morden zum Opfer.

Die fragile Herrschaft würde nachhaltig erschüttert

Auch deshalb waren viele ältere Weißrussen bereit, die diktatorische Herrschaft Lukaschenkos lange in Kauf zu nehmen: Dass es keinen Krieg gab und Ruhe herrschte, wurde dem Präsidenten mit traditionell autoritärem Denken zugeschrieben. Lukaschenko lebt bis heute damit – auch weil es mittlerweile logische Gründe dafür gibt: Eine pro-westliche Regierung in Minsk würde wahrscheinlich wie in der Ukraine den Kreml zu Militäraktionen einladen. Weißrussland, das für Moskau strategisch viel wichtiger ist, würde dann zum Kampfgebiet. Sich in den brutalen Krieg der Ukraine einzumischen, könnte natürlich Lukaschenkos fragile Herrschaft in Weißrussland langfristig erschüttern. “Ich glaube nicht, dass er das riskieren will”, spekuliert Schraibman. Aber warum dann die Drohungen und Anschuldigungen gegen Kiew und die Treue zum Kreml? “Die Vorwürfe gegen die Ukraine könnten dazu dienen, russische Luftangriffe aus weißrussischem Territorium gegenüber den eigenen Unterstützern zu rechtfertigen”, analysiert der Politikwissenschaftler. “Außerdem soll die Drohung gegen Kiew die ukrainischen Truppen im Norden festhalten. Das schwächt die Kräfte Kiews im Donbass.” Was aber, wenn diesmal, wie im Fall des russischen Angriffs auf die Ukraine, scheinbar gegen jede Logik entschieden wird? “Ich analysiere nur die rationalen Argumente”, sagt Schraibman – und weist darauf hin, dass Politiker ihre Entscheidungen nicht immer nach rationalen Kategorien treffen.