Warum ist die Eroberung der Stadt Lysychansk für die Russen so wichtig?
Mit der jüngsten Eroberung sind die Russen Slowjansk und Kramatorsk, dem eigentlichen Zentrum der ukrainischen Verteidigungskräfte im Donbass, einen großen Schritt näher gekommen. Aber der Kampf um Donbass ist noch lange nicht vorbei. Dagegen sagt Benno Zogg (32), Experte für Sicherheitspolitik am Center for Security Studies der ETH Zürich: «Wenn man die Überlegenheit der russischen Truppen bedenkt, dann sind Putins Erfolge im Donbass bisher sehr begrenzt.» Dass die Russen nur dank des massiven Hardware-Einsatzes langsam vorankommen, sieht Zog als Erfolg der ukrainischen Seite. Auch in anderen Gebieten, etwa auf Snake Island oder rund um die Stadt Cherson, konnten die Ukrainer zuletzt militärische Erfolge feiern. “Die Ukraine war insgesamt immer noch unentschieden – mit einem leichten Vorteil für die russische Seite.”
Was kommt als nächstes für die Ukraine?
Russische Truppen werden versuchen, die Städte Slowjansk und Kramatorsk unter ihre Kontrolle zu bringen. Bereits 2014, während des ersten ukrainisch-russischen Krieges im Donbass, markierte die blutige Schlacht um Slowjansk das Ende des Konflikts zwischen den beiden Ländern. Damals gelang es den ukrainischen Truppen, die prorussischen Invasoren aus Slowjansk zu vertreiben. Sicherheitsexperte Beno Zog rechnet mit einem langen Krieg. „Russische Truppen müssen jeden Quadratkilometer hart erkämpfen. Wir erleben eine regelrechte Materialschlacht. Wie in Mariupol und Shevzherodonetsk verlieren beide Seiten unglaublich viele Fahrzeuge, Material – und natürlich Menschen.“
Wenn Putin den Donbass erobert, wird er zufrieden sein?
Putins Kriegsziel bleibt dasselbe wie am Anfang: Er will die Ukraine destabilisieren und eine weitere Annäherung zwischen Kiew und dem westlichen Nato-Verteidigungsbündnis verhindern. Krieg ist nur eine Möglichkeit, die Ukraine schwach und abhängig zu halten, sagt Benno Zogg. “Irgendwann wird Putin versuchen, der Ukraine in einem erzwungenen Friedensabkommen harte Bedingungen zu diktieren – etwa Gebietsabtretungen und eine weitere Annäherung an Nato oder EU.” Sowohl die NATO- als auch die EU-Mitgliedschaft (beide sind derzeit beide nicht realistisch) würden die Ukraine transparenter, effizienter und wohlhabender machen: alles Entwicklungen, die Putin verhindern will.
Kann die Ukraine den Krieg noch gewinnen?
Am 132. Kriegstag zeigt sich Kiew selbstbewusst und kämpferisch. Volodymyr Selensky (44) betonte kurz nach der russischen Eroberung von Lysychansk: „Wir werden zurückkehren.“ Die Truppen werden in der Zwischenzeit neu gruppiert und neu ausgerüstet. Doch die Situation für Kiew ist nicht so rosig: Der Ukraine gehen allmählich die 122-mm- und 152-mm-Patronen aus, die sie für ihre alten sowjetischen Artilleriewaffen benötigt. Jeden Tag feuern ukrainische Truppen mehr Raketen ab, als weltweit an einem Tag produziert werden. Kiew braucht noch dringender moderne westliche Waffen. „Mit präzisen westlichen Artilleriewaffen könnte die Ukraine auch russische Artilleriestellungen außerhalb ihrer Reichweite angreifen und so die zahlenmäßige Überlegenheit der Russen teilweise ausgleichen“, sagt Sicherheitsexperte Zogg.
Wann wird der Krieg enden?
Der ukrainische Geheimdienst geht davon aus, dass Russland die Feindseligkeiten bis September beenden will. Sicherheitsexperte Zogg hält eine Waffenruhe im Herbst für durchaus wahrscheinlich: „Beide Seiten sind erschöpft. Es ist durchaus denkbar, dass Russland den Ukrainern im Herbst einen Waffenstillstand vorschlägt und dann den Winter nutzt, um neue Soldaten zu rekrutieren und auszurüsten.“ Der Krieg könnte dann im Frühjahr wieder aufgenommen werden, wenn die Friedensgespräche keine Früchte tragen. „Beide Seiten sollten in der Lage sein, den Krieg über Jahre hinweg fortzusetzen, vielleicht manchmal mit geringerer Intensität. Wir müssen uns auf einen langen Konflikt einstellen, der für Kiew besonders schmerzhaft wäre.” Aber Moskau hat auch mit Problemen zu kämpfen – zum Beispiel mit Blick auf heimische Labors. Nach Angaben des ukrainischen Geheimdienstes sitzt Moskau auf einem Stapel unbezahlter Rechnungen von Firmen, die beschädigtes Militärgerät reparieren. Der Kreml kann nicht zahlen und dringend notwendige Reparaturen werden hinausgezögert. Die russische Kriegsmaschinerie scheint nach vier Monaten Krieg in der Ukraine zum Erliegen gekommen zu sein.