Deutschland fürchtet um seine Erdgasreserven und erwägt, Lieferungen in andere Länder einzustellen. Das hätte erhebliche Folgen für die Schweiz – die Gaswirtschaft hofft auf den Solidaritätsvertrag. “Europa ist in Sachen Gasversorgung eine Schicksalsgemeinschaft.” Deutschland spielt dabei eine zentrale Rolle: „Wenn Deutschland ein Versorgungsproblem hat, dann hat ganz Westeuropa ein Problem, auch die Schweiz“, sagt Michael Schmid, Leiter Öffentlichkeitsarbeit beim Schweizerischen Verband der Erdgaswirtschaft, gegenüber blue News . Kein Wunder also, dass die Schweiz mit Sorge auf Deutschland blickt. An einer gemeinsamen Medienkonferenz am Mittwoch haben die Bundesräte Simonetta Sommaruga und Guy Parmelin klare Worte gewählt: Der Schweiz droht im Winter eine Erdgas- und Stromknappheit, für die Vorsorge getroffen werden muss. “Jetzt geht es ums Ganze”, sagte der Energieminister dramatisch. Die Schweiz steht am Ende einer prekären Lieferkette: Russland hat die Gaslieferungen durch die Pipeline Nord Stream 1 um rund 60 Prozent gekappt, weshalb Deutschland nun einen Engpass befürchtet. Bleibt die Situation so, sind weitere Schritte nötig, um die deutschen Lagertanks wie geplant bis November zu 90 Prozent zu füllen. Dies betreffe auch “den Transport von Erdgas in andere europäische Länder wie Frankreich, Österreich und Tschechien”, teilte die Bundesnetzagentur in ihrem Bericht vom Freitag mit.
Der Großteil des Erdgases stammt aus Deutschland
Die Schweiz ist nicht aufgeführt. Aber drei Viertel des Schweizer Gases kämen aus Deutschland, sagte Sommaruga. Um sich im Krisenfall abzusichern, arbeitet der Bundesrat deshalb eine Solidaritätsvereinbarung mit Berlin aus. Man versuche, Gasflüsse auch im Krisenfall zu sichern, „aber es gibt keine Garantie“, sagte Sommaruga.
Er erinnerte an den viel diskutierten Vorfall während der Corona-Pandemie, als Deutschland Schutzmasken für die Schweiz verbot.
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Das klingt nicht sehr optimistisch aus dem Mund des Energieministers, oder? „Das ist eine realistische Aussage“, sagt Michael Schmid vom Gasverband. Die Schweiz hat zwei Massnahmen angeordnet, um sich auf die Knappheit vorzubereiten: Der Bundesrat verpflichtete die Erdgaswirtschaft im Mai, Reserven bei Gasspeichern in den Nachbarländern aufzubauen. Darüber hinaus muss sie Kaufoptionen für zusätzliche Lieferungen von nicht-russischem Erdgas sichern.
„In Bezug auf die Energiemenge bekommen wir Prognosen, falls das Erdgas aus Russland ausfällt. Ob diese Energie dann effektiv in die Schweiz übertragen wird, ist eine andere Frage. Es besteht die Gefahr, dass Länder wie Deutschland oder Italien Erdgas zurückhalten, weil sie selbst nicht genug haben“, sagt Schmid.
Hier hofft der Branchenvertreter auf das Solidaritätsabkommen mit Berlin. Damit kann zumindest sichergestellt werden, dass sogenannte geschützte Kunden – private Haushalte, Krankenhäuser und Haushalte – das benötigte Gas bekommen.
Ist mehr Gas aus Italien die Lösung?
Sollte die Solidaritätsvereinbarung nicht wie erwartet greifen, kann das Bundesamt für öffentliche Beschaffung Maßnahmen zur Gaseinsparung anordnen. Wie diese Kontingentschritte genau aussehen sollen, will der Bundesrat im August informieren. Bereits am Mittwoch rief Finanzminister Parmelin die Unternehmen zum Spritsparen auf. Könnte die Schweiz nicht mehr Gas aus Italien beziehen, wenn Deutschland als Lieferant ausfällt? Hinsichtlich der Netzkapazität wäre dies möglich, äußert sich Schmid positiv. Doch diese Mengen Erdgas nach Italien zu transportieren, ist eine große Herausforderung. Dies geschieht auch in Form von Flüssiggas, sogenanntem LNG. “Aber die Kapazitäten von LNG-Terminals in italienischen Häfen sind begrenzt.” Das bedeutet: Italien konnte Deutschlands Totalausfall nur teilweise kompensieren. Aber die Ausgangslage bleibt: „Die Gas- und Energieversorgung ist grenzüberschreitend organisiert und extrem eng verzahnt“, sagt Michael Schmid. “Es gibt fast keine Möglichkeit, sich gegen ein Extremszenario so abzusichern, dass die Schweiz leicht davonkommt, wenn unsere Nachbarn mit Engpässen zu kämpfen haben.” Umgekehrt bedeutet dies auch, dass die Nachbarländer der Schweiz ein Interesse daran haben, den Erdgastransit durch Vereinbarungen und Verträge zu regulieren und abzusichern.
Axpo Expert: Gasspeicher „sehr gesund“
Auch Domenico De Luca, Handelschef des Energiekonzerns Axpo, ist zuversichtlich: Momentan komme aber genügend Flüssiggas aus dem Rest der Welt nach Europa, sagte er der Nachrichtenagentur AWP. Die Situation ist günstig für Europa, da die Nachfrage nach Kohle und Erdgas in China aufgrund der strengen Corona-Lockdown-Politik zurückgegangen ist. „Dies hat es Europa ermöglicht, seine Erdgasspeicher auf ein sehr gesundes Niveau zu füllen“, sagt De Luca. Allerdings herrscht große Unsicherheit darüber, wie sich die Situation in den kommenden Monaten entwickeln wird. Der Preis ist bereits gestiegen: „Wir hatten Preise für Lieferungen im Juni, Juli und August um die 80 Euro pro Megawattstunde. Heute sind es mehr als 130 Euro“. Auch Schmid vom Gasverband sagt, es sei noch Zeit, in einem winterlichen Krisenszenario eine Lösung zu finden. Im Oktober, wenn die Heizsaison beginnt, muss die Schweiz winterfest sein. Auf der Achse von Nord- nach Südeuropa: Besucher besichtigen einen Tunnel mit einer Erdgas-Transitleitung in Urweid bei Innertkirchen im Kanton Bern. Bild: Keystone