Von David Needy 04.07.2022 00:54
Ist Deutschland gut auf die kommenden Corona-Wellen vorbereitet? In “Anne Will” streiten sich die Gäste über Infektionsschutzmaßnahmen und Gesetz. Während Gesundheitsminister Lauterbach Lockdowns ausschließt, macht Intensivpfleger Lange einen 180°-Rundumschlag zur Lage in Krankenhäusern. Die Inzidenz der 7 Tage in Deutschland nimmt rapide zu. Erstmals erreichte die Zahl der schwerkranken Patienten auf Intensivstationen 1.000. Das Land befindet sich mitten in einer sommerlichen Hitzewelle, aber im Herbst wird bereits mit einer viel schlimmeren Situation gerechnet. Bei „Anne Will“ in der ARD geht es am Sonntagnachmittag heiß her, wenn über den Stand der Vorbereitungen für die Herbstwelle und das weitere Vorgehen in der Politik diskutiert wird. Am Freitag verkündete das Expertengremium in seinem Bericht zu Corona-Maßnahmen nur unschlüssige Ergebnisse. Allerdings wartet die Ampelkoalition mit dem Papier, bis sie mit den Arbeiten am Infektionsschutzgesetz beginnt, das in Teilen am 23. September ausläuft. Kritisiert wird, dass die Politik nicht aus Quark kommt und die Vorbereitungen für den Herbst schon lange nicht mehr angelaufen sind. “Ich habe den Bericht nicht gebraucht” für irgendwelche Informationen, gibt SPD-Gesundheitsminister Karl Lauterbach gegenüber Gastgeber Will zu. Aber so sei das in einer Koalition, denn “die FDP hat uns gebeten zu warten, bis der Bericht vorliegt”.
Die Politik der FDP muss sich und ihre Partei erklären
Die FDP hat also zu viel Zeit verstreichen lassen, um Deutschland auf die Herbstwelle vielleicht noch gefährlicherer Varianten vorzubereiten? Christine Aschenberg-Dugnus, die liberale Fraktionsvorsitzende und Mitglied des Gesundheitsausschusses, wird gleich zu Beginn der Debattenrunde ins Visier genommen. “Wir haben Wichtiges gelernt”, verteidigt sie die Position ihrer Partei, “nämlich, dass wir mehr Daten brauchen.” Anne Will entgegnet: „Als langjährige Gesundheitspolitikerin wussten Sie das vorher.“ Dank des Gutachtens sei nun aber bekannt, dass „psychosoziale Folgen“ stärker berücksichtigt werden müssten, erklärt Aschenberg-Dugnus. Und ohnehin, so der FDP-Politiker, sollen Maßnahmen gegen das Coronavirus künftig nur noch mit besseren Daten beschlossen werden. Ihre Partei will verschiedene Mittel zur Eindämmung des Virus nicht mehr in das Infektionsschutzgesetz schreiben. Lauterbach stellt auch vor Herbst und Winter klar: „Der Lockdown ist völlig unrealistisch, wir brauchen ihn nicht mehr.“ Denn dafür ist die Impfquote im Land hoch genug. Allerdings: „Schulschließungen schließe ich nicht kategorisch aus, auch wenn ich nicht glaube, dass sie kommen werden“, so der SPD-Politiker weiter. Man weiß einfach nicht, welche Variationen uns erwarten und deshalb müsse so viel wie möglich in die Hände der Bundesländer gelegt werden, um „für schwierige Szenarien gewappnet“ zu sein. Auf jeden Fall, erklärt der Bundesgesundheitsminister, hätte das Kabinett bereits andere Vorbereitungen für die nächsten Wellen beschlossen, die nun dem Bundestag vorgelegt würden. Jetzt steht nur noch das Infektionsschutzgesetz auf der Tagesordnung. „Wir müssen im Herbst sehr gut vorbereitet sein. Wenn nicht, dann würden es die Bürger zu Recht nicht verzeihen“, prognostiziert Lauterbach. Diese Beschlüsse befassen sich mit Echtzeitdaten, Abwasserüberwachung (um die Ausbreitung von Virusvarianten und -mutationen schneller zu erkennen) und anderen Impfkampagnen.
In Sachen Pflege geht es heiß her
Talkshow-Moderator Will beklagte jedoch, dass bisher ungeimpfte Menschen kaum dazu zu bewegen seien, sich jetzt impfen zu lassen. Der Gesundheitsminister antwortet: „Die vierte Impfung empfehle ich auf jeden Fall allen über 60, weil wir damit die Sterblichkeitsrate deutlich senken können.“ Und mit einer neuen Impfkampagne will Aschenberg-Dugnus „viele erreichen, die Angst vor einer Spritze haben“ oder Frauen, die immer noch fälschlicherweise glauben, „sie könnten nicht mehr schwanger werden“. Bei den Kabinettsbeschlüssen geht es aber auch darum, Pflegeeinrichtungen und Krankenhäuser besser zu schützen. Und in Sachen Pflege geht es plötzlich heiß her. Das liegt an Ricardo Lange. Auf seinen ersten Diskussionsbeitrag muss der Altbekannte einige Minuten warten, feuert dann aber ein Feuerwerk der Kritik ab. Will möchte wissen, wie zuversichtlich er ist, dass Deutschland besser vorbereitet ist als in früheren Wellen. “Ich sitze mit geballten Fäusten vor dem Fernseher”, sagt er, wenn er die Debatten über die Bemühungen verfolgt, das Gesundheitssystem nicht zu überlasten. Dinge, die im Bericht des Sachverständigenausschusses nichts zu suchen hatten. Krankenhäuser seien laut Lang noch lange nicht gut vorbereitet, aber Ärzte und Pfleger arbeiteten immer wieder weit über ihre Grenzen hinaus. “Patienten sterben, weil es zu wenig Personal gibt”, sagt er gerührt. “Betreuer sitzen im Flur und weinen.” Krankenwagen konnten einige Krankenhäuser nicht anfahren, weil nicht genügend Personal auf die Patienten wartete. “Herr Lauterbach, was meinen Sie mit überlastet?” Lang, jetzt errötend, wandte sich direkt an den Gesundheitsminister.
“Wir gehen immer unvorbereitet in eine Welle”
Lauterbach stammelt, er setze sich seit Jahren dafür ein, „die Situation zu verbessern“ im Gesundheitswesen. Er habe „gegen Pflegekürzungen vorgegangen“ und arbeite nun am Pflegeentlastungsgesetz. Noch vor den Sommerferien müssen die Eckpunkte geklärt werden. Das ändere aber nichts an der desolaten Situation für das Pflegepersonal vor Ort, schimpft Lang weiter. „Wir gehen immer unvorbereitet in eine Welle und sind dann überrascht, dass kein Personal da ist. Wie begründen Sie das?“ Lauterbach bleibt cool und erklärt, dass “immer mehr junge Menschen in die Pflege gehen” und sich die Lage verbessere. Auch Gesundheitspolitikerin Aschenberg-Dugnus bekräftigte, die Arbeitsbedingungen verbessern zu wollen. “Aber wie genau willst du das machen?” fragt Lang, Pflegekräfte hätten solche Worte schließlich schon oft gehört, aber tatsächlich sei nichts passiert. „Warum gibt es keine Sozialleistungen? Ein Soldat kann mit 55 in Rente gehen, aber Pfleger müssen bis 67 oder 70 arbeiten“, argumentiert der Intensivpfleger, um endlich neue Arbeitsanreize zu schaffen. Am Ende hat die Anne-Will-Gesprächsrunde keine Früchte getragen, die wirklichen Probleme im Pflegebereich, wie höhere Löhne mit einem Gesamttarifvertrag für alle, mehr Professionalität und Aufstiegschancen, attraktivere Ausbildungen, sind noch nicht da von der Politik auch nach zweieinhalb Jahren Pandemie gelöst. Das führt zu Personalengpässen und deshalb sterben jetzt mehr Patienten an und mit dem Coronavirus oder Patienten, die aufgrund anderer Erkrankungen zunächst nicht behandelt werden konnten. Auch mit einem neuen Infektionsschutzgesetz und verschiedenen Coronavirus-Maßnahmen könnte die Herbstwelle Deutschland erneut an seine Grenzen bringen. Ärzte und Pfleger arbeiten ohnehin schon lange daran.